Forschung im Detail

Robotereinsatz bei Pflegetätigkeiten
© Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Departement für Versorgungsforschung, Assistenzsysteme und Medizintechnik – Robotic Care Lab

Aufgrund des demographischen Wandels und technischer Innovationen erfährt die Versorgung von Menschen mit Demenz eine grundlegende Veränderung. Neue co-intelligente Monitoring- und Assistenzsysteme (CIMADeC) erlauben es, das Verhalten von Menschen mit Demenz zu beobachten und zu unterstützen. Ziel des Einsatzes solcher Technologien ist es, ein unabhängiges Leben der Betroffenen zu fördern und zu ermöglichen, Probleme frühzeitig zu erkennen, Pflegende zu entlasten und insgesamt die Qualität und Kosteneffizienz der Versorgung zu steigern. Diese sozio-technischen Systeme bezeichnen wir als „co-intelligent“, da sie künstliche Intelligenz (KI) und menschliche Interpretation in Mensch-Maschine-Interaktionen integrieren.

Im Verbundprojekt untersuchten wir in verschiedenen Teilprojekten solche co-intelligenten Systeme in der Demenzversorgung in zwei alltagsnahen Anwendungsbereichen, der institutionellen und der häuslichen Pflege. In der Kombination von Technikbewertung und empirisch informierter Ethik beforschten wir die soziale Akzeptanz und moralische Bewertung der Anwendungen mittels qualitativer Interviews in verschiedenen Gruppen:

  • Patient*innen 
  • Familienangehörige
  • professionell Pflegende
  • Ärzt*innen

Die ethische Analyse fokussierte dabei auf zwei wichtige ethische Konzepte in der Demenzversorgung:

  • Privatheit 
  • Empowerment

Die Projektergebnisse floßen in öffentliche Berichte, wissenschaftliche Artikel und Demonstrationsvideos ein. Sie sollen Entwickler*innen, Forschende aus Ethik, Sozialwissenschaften und Recht und Akteure auf der Policy-Ebene über mögliche Formen der Berücksichtigung von ethischen und sozialen Ansichten und Anliegen potentieller Nutzender und anderer Stakeholder bei der Entwicklung und dem Einsatz in der Versorgung informieren.

Die Forschungs- und Projektarbeit unterteilte sich in vier wissenschaftliche Teilprojekte und wurde durch das Koordinationsprojekt unterstützt (TP5).

TP1: Wertsensitives und affektbewusstes Design

Teilprojekt 1 (TP1) wurde an der Universität Rostock und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in der Helmholtz-Gemeinschaft von Prof. Dr.-Ing. Thomas Kirste und Prof. Dr. Stefan Teipel geleitet.

Ziel

Ziel dieses Teilprojektes war es, das Potenzial des Einsatzes intelligenter Sensortechnologien für patientenzentrierte Versorgung, die Effizienz von Pflegeprozessen und Empowerment von PatientInnen und Pflegenden weiter auszuschöpfen. Bislang stellen sich hier vor allem bezüglich des Zugriffs auf umfangreiche kommentierte Daten, die die Grundlage für das Training und die Kalibrierung der Systeme bilden, weitreichende ethische und rechtliche Herausforderungen. Betroffene müssen daher frühzeitig in den Forschungsprozess eingebunden werden, um akzeptable und nachhaltige Leistungen für die Datengewinnung zu erarbeiten. Darüber hinaus benötigen intelligente Erfassungssysteme ein ethisch reflektiertes Vokabular, um das Alltagsverhalten zu kennzeichnen. Aus diesem Vokabular werden das „Ground-truth“-Codebuch erstellt und die Dimensionen der Interpretation des mechanischen Verhaltens definiert. Es stellt somit eine Einschätzung der Rationalität und der Auswirkungen des individuellen Verhaltens in Bezug auf den Gesundheitsprozess und seine inhärenten Werte dar. Diese Verbindung zwischen Gesundheitswerten und Ontologie-Design soll schon im wertsensitiven und affektbewussten Design der Systeme berücksichtigt werden. TP1 hat organisatorische und technische Methoden entwickelt, um einen angemessenen Kompromiss zwischen ethischen Belangen, Empowerment und Forschungsbedarfen zu erreichen. Im Hinblick auf den Lebenszyklus intelligenter Sensorsysteme konzentrierte sich das TP1 dabei auf die kritische Phase von Studien zur Systementwicklung.

Methodik

Ein systematischer Ansatz zur Erreichung der Ziele musste in drei Richtungen voranschreiten:
(1) Gewährleistung der Akzeptanz von Studien zur Systementwicklung durch die Stakeholder,
(2) Untersuchung von Ersatztechnologien zur Gewinnung von Trainingsdaten,
(3) angemessene Berücksichtigung der affektiven Wertigkeit von Vokabularen zur Verhaltensinterpretation.

Das TP 1 orientierte sich dabei am SAMi-Projekt als Musterbeispiel und betrachtet drei Forschungsfragen, die als überprüfbare Hypothesen formuliert sind:
(1) Die Verwendung von Value Sensitive Design (VSD)-Methoden führte zu einer höheren Akzeptanzrate der Technologieentwicklungsforschung und zu einer geringeren Anzahl von Fällen potenzieller Wertkonflikte zwischen Interessengruppen.
(2) Die Verwendung von Ersatztechnologien zur Ermittlung der Grundwahrheit gleicht den durch diese Technologien verursachten Informationsverlust aus.
(3) Wenn Stakeholder, die an der Ontologiekonstruktion teilnehmen, Hintergrundinformationen zu den Prinzipien und Grenzen der Computerverhaltensanalys erhalten, wird (3a) die Akzeptanz der Technologie erhöht und (3b) das erwartete semantische Differential im Systembetrieb reduziert, wie es durch die Affektkontrolle-Theorie messbar ist.
Die Forschungsmethodik folgt dabei dem VSD-Framework.

TP2: Co-intelligente Assistenzsysteme in der ambulanten Demenzpflege

Teilprojekt 2 (TP2) wurde an der Abteilung Assistenzsysteme und Medizintechnik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg von Prof. Dr.-Ing. Andreas Hein geleitet.

Ziel

Ziel dieses Teilprojektes war es, zu untersuchen, inwiefern verschiedene Assistenzsysteme, die mit Fokus auf Patient*innen ohne kognitive Einschränkungen entwickelt wurden, auch bei der Behandlung von Personen mit Demenz eingesetzt werden können. Zudem wurde untersucht werden, ob und wenn ja welche Barrieren bei einem solchen Einsatz existieren. Die konkreten Anwendungsfälle umfassen dabei sensorbasierte Monitoringsysteme und robotische Assistenzsysteme. Diese wurden von der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Hein für den Einsatz in der Häuslichkeit älterer Menschen und zur Unterstützung der häuslichen Pflege (Palliativpflege, Intensivpflege, etc.) schon entwickelt. Beide Systeme haben das Potenzial, Personen mit Demenz und deren Betreuende/Pflegende zu stärken, können aber auch die privaten Pflegebeziehungen und das berufliche Selbstverständnis beeinträchtigen.

Methodik

Das TP 2 hat insbesondere die folgenden Teilfragen untersucht:
(1) Welche technischen Ansätze können für die Lokalisierung von Personen mit Demenz im Innen- und Außenbereich verwendet werden? Wie kann ein Kompromiss zwischen einer ausreichenden technischen Genauigkeit für den Betreuenden einerseits und dem Schutz der Privatsphäre der Person mit Demenz andererseits gefunden werden?
(2) Wie können aus den technischen Beobachtungen Funktionsparameter der Person mit Demenz abgeleitet und typische Verhaltensmuster erlernt werden? Wie werden normales Verhalten und Abweichungen von diesem interpretiert?
(3) Wie können Robotersysteme in die Pflege von Personen mit Demenz integriert werden? Welche Interaktionsformen sind angemessen? Welche Zielparameter können von Roboterassistenzsystemen automatisch gesteuert werden? Wie können Robotersysteme Personen mit Demenz und Betreuende/ Pflegende unterstützen?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde ein szenariobasierter Ansatz verwendet. In Hinblick auf Frage 1 wurden im QuoVadis-Projekt (Leitung Prof. Dr. Hein), bereits Versorgungsszenarien von Personen mit Demenz mit Relevanz für das Alltagsleben erhoben. Diese wurden durch eine Analyse von qualitativen Interviews mit Experten und Angehörigen (3) in Hinblick auf Frage 2 und 3 ergänzt. Die Interviews wurden in enger Zusammenarbeit mit TP3 und TP4 durchgeführt. Pro Forschungsfrage wurde dann mindestens ein Szenario in den Forschungslaboren der Universität Oldenburg (RoboticCareLab) und bei OFFIS (IdeAAL Lab) implementiert.
Folgende drei Szenarien von bereits bestehenden Assistenzsystemen sind auf die Anwendung bei Personen mit Demenz übertragen worden:

(1) Sicherheitsszenarien aus dem Projekt QuoVadis (sensorbasiertes Monitoringsystem),
(2) Unterstützungsszenarien aus dem Projekt GAL (sensorbasiertes Monitoringsystem für komplexe Aktivitätsketten)
(3) Robotische Assistenzsysteme aus den BMBF-Projekten iTAGAP und PIZ (Unterstützung für Pflegende und PatientInnen im ambulanten Bereich).

TP3: Betroffenenperspektiven zu CIMADeC und die Ethik der Privatheit

Teilprojekt 3 (TP3) wurde an der Abteilung Ethik in der Medizin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg von Prof. Dr. Mark Schweda geleitet.

Ziel

Ziel dieses Teilprojekts war es, die Perspektiven der Betroffenen mit Blick auf die CIMADeC Fallstudien aus TP1 und TP2 zu erheben und zu untersuchen. Dabei lag der Fokus auf der Analyse der Akzeptanz und Akzeptabilität der Technologien unter besonderer Berücksichtigung von Verständnissen von und Anforderungen an Privatheit in der Pflege. CIMADeC fordert hergebrachte Vorstellungen von Privatheit heraus. Co-intelligente Sensortechnologie und robotische Assistenzsysteme können zum Schutz und der Stärkung von Privatheit in der Pflege beitragen. Sie können jedoch auch mit der wesentlich privaten Dimension des Selbstverständnisses und der Selbstdeutung sowie des Alltagslebens der betroffenen und beteiligten Personen in Konflikt geraten. Weitere Herausforderungen können in Bezug auf die Sorgebeziehungen in häuslichen und institutionellen Kontexten auftreten. Diese potenziellen Konflikte können erhebliche Auswirkungen auf die Akzeptanz der Technologien in haben und machen die Entwicklung eines tieferen und umfassenderen Verständnisses des Wertes von Privatheit für ein gutes Leben in intakten Sorgebeziehungen erforderlich. Deshalb befasste sich TP3 auch mit den Verständnissen der Teilnehmenden von individuellem Wohlergehen und persönlichen Nahbeziehungen im Kontext ihrer Bewertung der technischen Interventionen.

Methodik

Um die Sichtweisen der Betroffenen auf CIMADeC in die ethische Auseinandersetzung einzubeziehen, wurden diese durch Methoden qualitativer Sozialforschung ergänzt und angereichert. Zunächst wird eine systematische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses über Privatheit im Kontext der Pflege von Menschen mit Demenz durchgeführt. Davon ausgehend sind mittels halbstrukturierter qualitativer Interviews (27) die entsprechenden Vorstellungen und Bedürfnisse der betroffenen Personen und die zugrundeliegenden Auffassungen und Einstellungen untersucht worden. Dabei sind sowohl Menschen mit Demenz selbst als auch sorgende Angehörige im häuslichen und stationären Setting befragt worden. Auf dieser Grundlage wurde der Wert von Privatheit im Kontext der technisch assistierten Versorgung von Menschen mit Demenz empirisch exploriert und ethisch konzeptualisiert. Dabei wurden auch angrenzende Themen wie z. B. Vertrautheit, Häuslichkeit oder Geborgenheit in die Betrachtung einbezogen.

TP4: Professionsperspektiven zu CIMADeC und Empowerment-Ethik

Teilprojekt 4 (TP4) wurde am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen von Prof. Dr. Silke Schicktanz geleitet.

Ziel

Ziel dieses Teilprojekts war es, die Perspektiven und Einstellungen von Fachkräften gegenüber den von SP1 und SP2 beschriebenen CIMADeC-Systemen zu erforschen und die Auswirkungen und Bedingungen für Empowerment ethisch zu reflektieren.
Sowohl in der institutionellen als auch in der häuslichen Pflege ist die Akzeptanz der beschriebenen sozio-technischen Systeme durch alle Beteiligten von größter Bedeutung. CIMADeC in institutionellen Pflegeeinrichtungen wie z.B. in Pflegeheimen erfordert die soziale Akzeptanz sowohl der Fachkräfte als auch der Bewohner. Für das Fachpersonal (Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Reinigungspersonal usw.) können solche Systeme eine Unterstützung bei ihrer Arbeit bedeuten. Sie können beispielsweise eine bessere Einschätzung des Aufenthaltsortes oder der Stimmung von Bewohnern ermöglichen und Unterstützung bei körperlich anstrengenden Aufgaben bieten. Sie können jedoch auch eine Bedrohung für die (mitunter bereits prekären) Arbeitsbedingungen darstellen. Daher ist es wichtig zu verstehen, wie Berufsethos und Selbstverständnis durch solche soziotechnischen Systeme beeinflusst werden und wie Veränderungen im Arbeitsalltag wahrgenommen und moralisch bewertet werden.

Der Schwerpunkt von SP4 lag auf den positiven und negativen Potenzialen von Empowerment, sowohl als Prozess als auch als Ergebnis sozialer Pflegebeziehungen im Kontext technisch unterstützter Pflege.

Methodik

Da das Wissen über die moralischen und sozialen Fragen unzureichend ist, wurden explorative qualitative Interviews mit Fachleuten durchgeführt:

(1) mit deutschsprachigen Expert*innen (20) aus den Bereichen
Computer- und Ingenieurwissenschaften, pflegerischen Berufsverbänden und der Versorgungsforschung, -praxis und -politik
(2) mit beruflich Pflegenden (21)

Um einen theoretischen Beitrag zum Empowerment in diesem spezifischen technologischen Kontext zu leisten, hat sich SP4 auch auf das komplexe ethische Konzept des Empowerments konzentriert, das in der Demenzpflege eine zentrale Rolle spielt. Dabei wurden verschiedene Ebenen der Interaktion in den folgenden fünf Dimensionen umfassend untersucht:

(1) Privatsphäre,
(2) Sicherheit,
(3) Beteiligung an der Entscheidungsfindung in Bezug auf die Entwicklung und Nutzung von Technologien
(4) Wohlbefinden und
(5) Verantwortlichkeit im Einzelfall.